Der letzte Schrei – warum Paint besser für die Welt ist als Photoshop

Fabian Stark Kontent 2017

Der letzte Schrei –
warum Microsoft Paint besser für die Welt ist als Photoshop

Über den Autor

Fabian Stark (*1991) studierte Europäische Ethnologie in Berlin, ist Redakteur des Gesellschaftsmagazins TONIC und kümmert sich nebenbei um kontent, den Blog des Fuchsbau Festivals.

Essay 09.08.2017

Bild: Amna Franzke/taz

Der Artikel erschien erstmals in ähnlicher Form am 27. Juli 2017 in taz.die tageszeitung.

„Deprecated“ – technisch überholt. So knapp die Begründung, so unverhofft die Nachricht: Der Softwarehersteller Microsoft verkündete am 24. Juli, er werde mit dem Creators Fall Update die „aktive Entwicklung“ des Grafikprogramms Paint einstellen und es in künftigen Windows-Versionen wohl nicht mehr anbieten.

„RIP MS Paint 1985–2017“, kritzelten bald viele Fans in das Grafikprogramm ihrer Herzen und luden das Bild unter dem Hashtag #MSPaint bei Twitter hoch. „Malware“ bedeutet im Englischen eigentlich Schadsoftware, Deutsch „Mal-Ware“ ausgesprochen wurde der Begriff nun zur Liebkosung.

Manche stöberten auf ihrer Festplatte aus dem letzten Jahrtausend nach den Werken ihrer Kindheit. Der englische Schriftsteller Mark Haddon (The Curious Incident of the Dog in the Night-Time) gedachte der Software mit der digitalen Zeichnung eines knuffigen, bebrillten Hunds.

Microsoft roch das Lauffeuer, und so stellte noch vor Abenddämmerung eine Managerin auf dem Blog des Unternehmens klar: „MS Paint is here to stay.“ Mit so viel Nos­talgie der breiten Fanbase habe das Unternehmen nicht gerechnet, schreibt Megan Saunders. Paint sei weiterhin kostenlos über den Windows Store zu beziehen, seine Funktionen seien zudem seit April 2017 Teil der neuen App Paint 3D. Microsoft bringt Paint nicht um die Ecke, sondern versetzt das Programm nur ins künstliche Koma.

Von der Nachricht bleibt: Das Programm MS Paint wird bald nicht mehr aktiv weiterentwickelt. Nur: Wurde es das jemals?

Geboren wurde Paint am 21. November 1985 in Windows 1.01, noch unter dem Namen Paintbrush und der Lizenz der kleinen Softwarefirma ZSoft Corporation. Sprühdose, Radiergummi und Textfeld waren bereits Werkzeuge der ersten Version, der Farbeimer kam erst später dazu. Wann genau, vermag Microsoft nicht mehr zu sagen, „zu kompliziert“, schreibt die Presseabteilung des Unternehmens auf Anfrage.

Screenshot der Version 1.0 von Paintbrush

In Windows 95 konnte man seine eigene Farbpalette erstellen und sichern, seit Windows 98 sind Bilder neben BMP auch als JPEG, GIF und PNG speicherbar – die anfänglichen Formate MSP sowie PCX (PiCture eXchange) wurden damit begraben. Mit Windows XP konnte Paint Bilder direkt vom Scanner oder der Kamera laden.

Mit Paint entstand eine Reihe von Praktiken an der Schnittstelle zwischen Kunst und Prokrastination: mit der Dose an einen Punkt sprühen, bis sich der Kreis um den Cursor bis auf den letzten Pixel gefüllt hat. Den Farb­eimer ausschütten, um zu sehen, welche Flächen auf einem Bild exakt die gleiche Farbe haben und welche Konturen ein Loch haben. Freihändig eine gerade Linie zeichnen, ohne dass sie in die nächste Pixelzeile springt.

Überhaupt lehrte Paint die Bedeutung von Pixeln, definierte abgeschlossene Flächen, zeigte Lücken und die Folgen des eigenen Handelns auf: Maximal drei Arbeitsschritte machte der Pfeil nach links rückgängig; darüber hinaus ließ sich eine Figur nur schwer wieder löschen, außer man radierte sie mühsam von der Leinwand.

Das Betriebssystem Vista erlaubte dann gleich zehnmal „rückgängig“ hintereinander. Im Jahr 2007 brachte Microsoft schließlich Windows 7 auf den Markt. MS Paint kam damitfrisch vom Einkauf im Künstler*innenbedarf, das Programm hatte nun Pinsel im Kasten, die realistischer malen sollten: mehr Claude Monet als Miró und Kandinsky. Es war die Abkehr vom radikalen Pixelismus und vielleicht der Anfang vom Ende.

Paint hatte einen Antagonisten aus dem Hause Adobe bekommen: Photoshop. Die Oberfläche der Version 1.0 von 1990 ähnelte noch der von MS Paint, bald aber fiel die Fassade und offenbarte die wahren Absichten von Photoshop. Bilder sollten der Realität näher rücken, rote Augen „entfernt“ werden. Aufgedunsene Köpfe konnten nun auf die Körper von Size-Zero-Models gesetzt werden, und bald bemerkte den Schwindel auch niemand mehr.

Der Auftrag Photoshops lautete Fake. Die Irrealität authentisch erscheinen lassen.

Paint aber war wie das Theater von René Pollesch: Es krabbelt über die Bühne und schreit sich selbst heraus. Das Programm macht sich selbst und die Bedingungen des eigenen Schaffens zum Thema, drückt nonchalant ab und an eine Zigarette auf der Arbeitsfläche aus. Paint tut nie so, als wäre es die Figur – und nicht in erster Linie die Schauspielerin unter Druck des neoliberalen Kulturbetriebs. Weg mit der Illusion, her mit dem Rotz! Paint ästhetisiert keine Form und trägt doch die ganz eigene Trash-Ästhetik. Immer ein bisschen drüber.

Dabei ist Paints Türschwelle niedrig, das Buch Paint für Dummies wurde nie geschrieben. Öffnen und loszeichnen, direkte Aktion. Die unmittelbare Bildbearbeitung, die ehrliche und körperliche: Das Zittern der Maus ist sofort dokumentiert. Versuch hingegen mal, in Photoshop ein Bild zu öffnen und einfach loszukritzeln. Du wirst scheitern an unübersichtlichen Ebenen und der Suche nach einem Werkzeugkasten, der Dich sprühen, schreiben, frei sein lässt. Stattdessen bedrängt Dich Photoshop mit zig Möglichkeiten, Bildflächen auszuwählen.

Auch der Bostoner Illustrator Pat Hines, so seine Geschichte, kam nicht mit Photoshop klar und begann daher, mit Paint zu arbeiten. Jim aus dem englischen Bristol nimmt auf seiner Website Jim’ll paint it Aufträge für Paint-Gemälde entgegen. Und der 2014 im Alter von 98 Jahren verstorbene Hal Lasko, genannt „Pixel Painter“, lobte an Paint besonders dessen Präzision. Laskos Enkel Ryan verkauft seine Stillleben und Pixelwälder weiter für 69 Dollar auf seiner Website. Die Gemälde von Pat, Jim und Hal erfahren Bewunderung, gerade weil sie nicht mehr nach Paint aussehen. Ach, noch etwas eint die drei: Sie sind männlich und weiß.

Dabei bergen Paint und seine Ästhetik Potenzial für Partizipation, gar emanzipatorische Kraft. Snapchat kopierte das Prinzip, in ein Foto zu kritzeln; und der entrückte Text, der Bilder zu Memes macht, verquirlt im besten Fall die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Guten.

Die Fallhöhe zwischen hochauflösender Smartphone-Kamera und pixeligem Gekrakel wird zur Distinktion, die vermeintliche Wiederbelebung der 90er-Jahre-Ästhetik verweist auf eine Zeit, in der Cyberspace noch eine demokratische Hoffnung war. Manche beanspruchen diesen Raum zurück, und die Ironie, ausgemachte Bilder, die Schmollmünder und politischen Possen einfach zu überzeichnen, ist in guten Momenten auch ein bisschen queer.

Nun also Paint 3D. Wer da schon mal drin war, sah eine Leinwand, vor die dreidimensionale Formen passen: Junge, Mädchen, Haus, Hund. Die Dimensionen stehen ratlos nebeneinander wie Pfeffersack und Käsereibe – ein Bildschirm hat nur zwei Achsen, x mal y. Perspektive und Schlagschatten, billige Mittel, um das Irreale realer scheinen zu lassen. Paint 3D lässt ratlos zurück wie der erste Imax-Besuch, bei dem man einmal kurz erschrak, als T. Rex ein bisschen ins Gesicht brüllte. Microsoft hat Paint das erste Mal nach 32 Jahren weiterentwickelt, nur leider in die falsche Richtung.

Die Managerin Megan Saunders schrieb im Blog, Microsoft schläfere Paint aufgrund der grassierenden Nostalgie nicht ein. Das Gegenteil ist wahr: Paint ist missverstandene Avantgarde, allzeit bereit, die Wirklichkeit zu überzeichnen.