Der Wille zur Entfremdung

julian Kontent 2016

Der Wille zur Entfremdung

Über den Autor

Helmut Höge ist Autor und Journalist, Tierforscher und Gewinner des Ben-Witter-Preises unter anderem für gesellschaftskritischen Humor. Bekannt ist er für die taz-Reihe „Auf 13 Joints mit Helmut Höge“ und sein Blog Hier spricht der Aushilfshausmeister.

Mittel • Essay 05.08.2016

Warum es in die Irre führen kann, Harmonie mit der Natur zu suchen, wie Menschen hinter Waren verschwinden und wann Maschinenstürmer gegen Geld und Berechnung kämpfen könnten, schreibt der Schriftsteller Helmut Höge.

1. Die zweifelhafte Suche nach dem Einklang mit der Natur

In den siebziger Jahren, den sozialistischen Startlöchern der Bremer Universität, lieferten wir uns wahre Paper-Schlachten mit den Frühschriften von Marx und dem Begriff „Entfremdung“. Danach verschwand er.

2005 veröffentliche die Philosophin Rahel Jaeggi schließlich ein Buch „zur Aktualität“ des Entfremdungs-Begriffs. „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch Nach Marx und Der neue Chef.“ Nun verzeichnet Google wieder 852.000 Eintragungen.


„Entfremdung“ ist ein sinnliches Wort.


Man denkt dabei an die „Fremde“, romantisch bis elendiglich; an Entwicklungen, die einen „befremden“, ans „Fremdgehen“ und „fremdeln“, ans „Verfremden“ und an „Realitätsfremdes“. Laut Wikipedia ist die Entfremdung ein „Zustand, in dem eine ursprünglich natürliche Beziehung (zwischen Menschen, Menschen und Arbeit, Menschen und dem Produkt ihrer Arbeit sowie von Menschen zu sich selbst) aufgehoben, verkehrt, ge- oder zerstört wird.“


Wir erleiden diese Entfremdung jedoch nicht nur, sondern ermöglichen sie uns auch.

 

Bei Hegel heißt es: „Was der Geist will, ist, seinen eigenen Begriff erreichen (den Ort, an dem er theoretisch und praktisch in Harmonie mit dem Ganzen steht); aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst.“

In diesem Satz hat sich der Geraer Öko-Landwirt Michael Beleites mit seinem aktuellen Buch Land-Wende. Raus aus der Wettbewerbsfalle verfangen. Die „Harmonie“ (mit der Natur) sowie „eine Rücknahme überdehnter Naturentfremdung“ sind der gesuchte Ort seines Geists – der „Versuch einer Wiedervereinigung der Realität“. Seine Theorie beruft Beleites auf sein Buch Umweltresonanz: Grundzüge einer organismischen Biologie; mit der Land-Wende will er nun seine „biologischen Erkenntnisse an einem praktischen Beispiel konkret“ machen, und zwar „aus der Perspektive einer fundamentalen Kritik am Selektionsdenken und an der Wettwerbslogik“ (in der heutigen Landwirtschaft). Was für ihn zur allgemeinen Forderung nach „mehr Aufenthalt im Freien“ und „mehr körperlicher Arbeit in freier Natur“ führt. Für die Gesellschaft bedeutet das „ein integratives Verhältnis zur Natur“ zu finden. Bereits mit der Sesshaftigkeit und der damit zusammenhängenden „Domestikation“ von Tieren und Pflanzen sowie der „Selbstdomestikation“ der Menschen sei es zu einer „Degeneration“ gekommen.

Dieses Jahr hatte Beleites bereits eine Schrift mit dem Titel Dicke Luft: Zwischen Ruß und Revolte veröffentlicht. In dünne Luft begibt er sich nun mit seiner Land-Wende. Warum?

1940 hatte der Verhaltensforscher Konrad Lorenz seinen Aufsatz „Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens“ veröffentlicht, der ihm 1973, bei Entgegennahme des Nobelpreises, heftig vorgehalten wurde: „Die Tierzucht“ gerate ihm darin „zum Modell für die Menschenzucht“. Bei Vergleichen zwischen Wild- und Hausgänsen hatte Lorenz fatale „Verfallserscheinungen“ bei den domestizierten Rassen festgestellt – und daraus unter anderem geschlussfolgert: Beim Menschen sei es ebenfalls durch Domestikation „zur Vernichtung oder mindestens Gefährdung von instinktmäßig programmierten Verhaltensweisen wie Mutterliebe oder selbstlosem Einsatz für Familie und Sozietät gekommen“, woraus letztlich „Sozial-Parasitismus“ entstehe.

Auch Beleites spricht von „Parasitentum“, dem er eine „organismische Integration“ entgegenstellt. Ob diese aber auch die von Lorenz diagnostizierte „Verluderung der Instinkte“ bei Mensch und Tier verhindert, die Beleites „eine Art Präzisionsverlust erblicher Verhaltensmuster“ nennt? Auch ob wir diesen Verlust wirklich verhindern wollen, lässt Beleites’ Biologismus offen – wie die Antwort auf Nietzsches Frage: „Seid natürlich! aber wie, wenn man eben ‚unnatürlich‘ ist?“ Stattdessen zitiert Beleites den Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech: „Die Umwelt in den Industriestaaten passt nicht zur Natur des Menschen.“ Immer mehr werden krank.

Die Bolschewiki waren noch davon überzeugt, den Menschen passend zu machen. So meinte der Sowjetdiplomat Adolf Joffe in seinem Abschiedsbrief an Trotzki 1927: „Wer wie ich an den Forschritt glaubt, kann sich sehr gut vorstellen, dass die Menschheit, wenn unser Planet erschöpft ist, längst Mittel und Wege gefunden haben wird, um sich auf anderen, jüngeren Planeten anzusiedeln.“ Nachdem Juri Gagarin 1961 den ersten Schritt in diese „richtige Richtung“ getan hatte – als Kosmonaut von Wostok 1, jubelte der Philosoph Emanuel Lévinas: Damit werde nun endgültig und weltweit das „Privileg der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Seit Gagarins Weltraumflug gibt es keine Heimat mehr.


Fortan würden wir alle in der Diaspora leben –
und damit keiner mehr.


Das Gegenteil ist jedoch inzwischen der Fall: Die aus der Lenkwaffenforschung nach dem Krieg entstandene Kybernetik und dann die computerbasierte Gentechnik haben die Entfremdung zum Programm erhoben.


Der Fortschrittsphilosoph Vilèm Flusser meinte, dass wir uns noch im Zeitalter der Vorkunst bewegen, die „wahre Kunst“ beginne mit der Gentechnik: „Erst mit ihr sind selbstreproduktive Werke möglich.“


Weniger optimistisch ausgedrückt: Sie läuft darauf hinaus, alle Lebewesen – von der Amöbe über die Birke und den Champignon bis zum Menschen – künstlich herzustellen, und zwar besser, als sie sich bis jetzt auf natürliche Weise entwickelt haben. Es ist noch ein weiter Weg bis dahin, aber schon jetzt ließe sich sagen: Es war ein schrecklicher Fehler, die organismische Natur den Naturwissenschaften zu überlassen, die nur Subjekt-Objekt-Beziehungen gelten lassen, ein verdinglichendes Denken, dem auch Beleites mit seiner Rückkehr zur Natur nachhängt. Dabei geht es bei Entfremdung um Subjekt-Subjekt-Beziehungen, also um die Welt, wie das Subjekt sie erfährt.


2. Menschen verschwinden hinter Produkten und im Digitalen

In seiner Habilitation von 1987 sprach der französische Philosoph Jean Baudrillard von der „Kunst des Verschwindens“, verstanden als ein „Tarnverfahren zum Überleben“ – eine Subjektstrategie, die auf Verführung basiert. Kurz vor seinem Tod, 2007, hat er diese Kunst noch einmal thematisiert: Diesmal als Objektstrategie eines umfassenden „digital processing„, das den Menschen qua Technologie zum Verschwinden bringt. Damit aber auch das Böse sowie alle Radikalität:

„Wenn sie sich vom mit sich selbst versöhnten und dank des Digitalen homogenisierten Individuum trennt, wenn alles kritische Denken verschwunden ist, dann geht die Radikalität in die Dinge über. Und das Bauchreden des Bösen wechselt zur Technik selbst hinüber (…) Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen – dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.“

Ja, dank des „Klonens, der Digitalisierung und der Netze“, so Baudrillard, sind wir eigentlich schon so gut wie verschwunden.

Eine Ironie dieser Objektstrategie besteht darin, dass nach der Wende alle alten und neuen wilden Künstler anfingen, Baustellen zu malen. Anders als früher gab es auf ihren Werken jedoch durchweg keine Bauarbeiter mehr. Deren hilflose Wut angesichts des Lohndumpings im Hauptstadt-Bauboom zeigte bereits das langsame Verschwinden der alten Arbeiterklasse an – in Wirklichkeit, und nicht nur in der Kunst. Dafür wurden Kranballetts inszeniert. Einmal erschlug ein umstürzender Baukran eine „Nachwuchskünstlerin“ (BILD).

Solche ironischen Objektstrategien haben die enorme Warenanhäufung zum Hintergrund. Selbst die Liebe ist nur noch konsumistisch realisierbar: mittels Kinobesuch, Candlelight-Dinner und romantischem Urlaub. Sogar der gelungene Geschlechtsakt beruht auf mehr und mehr Waren und Dienstleistungen; Fitnesscenter- und Solariums-Besuche, Pornofilm-Kennerschaft, Reizwäsche, Viagra, Parfums, Öle. Selbst die gemütliche Kneipenrunde hat sich schon objektmäßig gegen uns gewendet.


Bier, das wir bestellen, ist nicht mehr Mittel zum Zweck (das Gespräch), sondern umgekehrt: Man hat sich nichts mehr zu sagen, stattdessen rückt die Frage, ob man noch eine Runde und noch eine und noch eine bestellt, in den Mittelpunkt.


Dazu gibt es immer mehr Biersorten.

Sowieso dürfen wir inzwischen nicht einfach mehr miteinander reden, sondern müssen kommunizieren. Vom „Tanz ums Telefon“ schreibt Miriam Meckel in ihrem Buch Wege aus der Kommunikationsfalle: Die „kommunikative Vernetzung“ ist zum Wert an sich geworden und nicht mehr „Mittel zum Zweck der Verständigung“.

Allein das Marktvolumen für Klingeltöne beläuft sich inzwischen auf 5 Milliarden Dollar. Und täglich werden 171 Milliarden E-Mails verschickt. Eine Glasgower Studie ergab, dass Bürobeschäftigte bis zu vierzig mal in der Stunde ihr E-Mail-Programm aufrufen. Beim Mikrochiphersteller Intel wurde festgestellt, dass selbst Ingenieure, die im selben Büro sitzen, sich lieber E-Mails schicken als miteinander zu reden. Einige große US-Unternehmen haben ihre Mitarbeiter bereits zu „No E-Mail Fridays“ verdonnert. Aber auch nach Feierabend oder gerade dort „organisieren bereits Millionen ihre Freundeskreise über Online-Netzwerke,“ schreibt der Spiegel in seiner Jahresend-Ausgabe – und zitiert eine Carolin Thiele (25): „Hundertmal am Tag gehe ich da rein, ganz schlimm.“


3. Maschinenstürmer gegen Geld und Berechnung

In seinem letzten Werk A Defence of Poetry beklagt der englische Dichter Percy Bysshe Shelley 1821 die zunehmende Verarmung von immer mehr Menschen. Für die Ungleichheit und Unordnung machte er vor allem den „ungehemmten Gebrauch des Berechnenkönnens“ verantwortlich.

In Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) erkennt ein heruntergekommener ehemaliger Beamter, dass eine freie moralische Entscheidung unmöglich ist in einer Welt, die zunehmend von instrumenteller Vernunft beherrscht wird.


Er besteht darauf, dass es nicht für alle gültig sein darf, dass zwei mal zwei vier ergibt, und kritisiert die Fortschrittsgläubigkeit, die aus den modernen Errungenschaften der Technik und Naturwissenschaften resultiert, und auf soziale Vorgänge übertragen wird.


Der spätere indische Premierminister Jawaharlal Nehru schrieb 1943 im englischen Gefängnis über die Auswirkungen des englischen Kolonialismus: „Die unverkennbarste und weitestgehende Veränderung war die Zerschlagung des Agrarsysystems und die Einführung der Begriffe des Privateigentums und des Großgrundbesitzes. Die Geldwirtschaft hatte sich langsam durchgesetzt, das Land wurde eine marktfähige Ware. Woran früher aufgrund bestehender Bräuche streng festgehalten worden war, das wurde jetzt durch das Geld aufgelöst.“

Ähnlich dachte auch der Mathematiker Theodore Kaczynski. Er gehörte zu den kalifornischen Computer-Pionieren; und als er sah, welch mächtige Global Player aus ihren anfänglichen Gedankenspielen erwuchsen, zog er sich in eine Waldhütte zurück. Von dort schickte er ab 1978 Briefbomben an seine ehemaligen Kollegen. Kaczynski, den man daraufhin „UNA-Bomber“ (von UN-iversities und A-irlines) nannte, wurde 1996 verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Leipziger Filmemacher Lutz Dammbeck veröffentlichte 2005 das Manifest des UNA-Bombers auf Deutsch. In Dammbecks Film Das Netz wurde Kaczynskis Terror gegen die Entwicklung universeller Internet-Technologien als „Maschinenstürmerei“ bezeichnet.

Den Begriff „Maschinenstürmerei“ hatte der Schriftsteller Kurt Vonnegut 1953 mit seinem Buch Das höllische System neu geprägt. In seinem Aufstandsszenario dachte Vonnegut die Militärforschung des Father of Cyborg Norbert Wiener und des Mathematikers John von Neumann weiter: Die „Maschinisierung von Hand- und Kopfarbeit“ entlässt Menschen aus dem Produktionsprozess; die nun Überflüssigen haben nur noch die Wahl haben zwischen 1-Dollarjobs in Kommunen und Militärdienst im Ausland. Dagegen revoltieren sie. Ihr Aufstand wird jedoch niedergeschlagen, die Rädelsführer hingerichtet – darunter der Seitenwechsler John von Neumann, der verspricht: „Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.“

Noch während der Attentatsserie von Theodore Kaczynski beantwortete der Schriftsteller Thomas Pynchon in der New York Times Book Review die Frage „Is It O.K. To Be A Luddite?“.


Pynchon spielte damit auf die Ludditen an, englische Maschinenstürmer um 1800, und dachte dabei an eine mögliche Zerstörung der heutigen Rechner.


Pynchon: „Wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren: Junge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.“

Pynchon sieht demnach ähnlich wie der französische Philosoph Jean Baudrillard das Heil in Objektstrategien: Nur sie wären noch in der Lage, Maschinen zu stürmen. Erst mit der Vervollkommnung der Logarithmen kehren also die Götter wieder. Aber können und wollen wir so lange warten?