Libyen – Die Ruhe nach dem Sturm

julian Kontent 2016

Libyen – Die Ruhe vor dem Sturm

Über den Autor

Christoph Reuter (*1968) ist Journalist und Kriegsberichterstatter. Er arbeitete für Die Zeit, stern, GEO und derzeit für den Spiegel. Sein zuletzt erschienenes Buch Die schwarze Macht: Der ‚Islamische Staat‘ und die Strategen des Terrors erhielt den NDR Kultur Sachbuchpreis.

Das Gefecht • Reportage 31.07.2016

Westliche Journalisten*innen, die über Libyen schreiben, lieben offenbar das dramatische Raunen: Das Land sei zerfallen, ja ein failed state, beherrscht von einander bekriegenden Milizen, ein zweites Syrien. Oder Somalia. Oder was den Autor*innen noch an Schauer-Metaphern einfällt.

Kommt man nach Tripolis, der libyschen Hauptstadt, dann ist es vor allem eins: ruhig. Einfach: ruhig. Vor öffentlichen Gebäuden stehen bewaffnete Wachhabende, das von IS-Terroristen vergangenes Jahr angegriffene Corinthia-Hotel ist noch immer nicht für Übernachtungsgäste geöffnet, sondern nur für Konferenzen. Aber sonst: verläuft das Leben ziemlich normal. Die Polizei nimmt Verkehrsunfälle auf, die Cafés und Restaurants sind voll, und der wesentliche Grund für das einschränkende „ziemlich“ sind die Schlangen vor den Banken und Geldautomaten: Die Zentralbank limitiert die Auszahlungen, um die schrumpfenden Reserven zu strecken. Libyen lebt im Moment vom Ersparten, die Ölförderung ist auf ein Fünftel gesunken. Aber es ist kein Krieg in Tripolis.


Die einzigen Detonationsgeräusche sind die Feuerwerke der Hochzeitsgesellschaften, das lauteste – und beliebteste – Sortiment heißt folgerichtig „Nato“.

 

Auch Misurata, die Handelsmetropole und drittgrößte Stadt des Landes weiter im Osten, ist ruhig. An einem Nachmittag im März bevölkern Familien einen Spielplatz, in Sichtweite eines temporären Checkpoints mehrere Polizeieinheiten. Teils vermummt und schwer bewaffnet kontrollieren sie die durchfahrenden Autos. Im Verlauf von drei Stunden protokollieren die Männer mehrere Autos ohne Nummernschild. Und erzählen stolz davon, wenige Wochen zuvor einen Betrunkenen gestoppt und festgesetzt zu haben. Im April 2016 gibt es keine einzige Stadt im Land, in der fortwährend gekämpft würde.

Nun ist es nicht so, dass Libyen ein stabiles und vor allem: ein geeintes Land wäre. Aber es ist eben auch kein Land im tatsächlichen Krieg. Die Wirklichkeit, in all ihren Eigenheiten, entzieht sich offenbar den Kategorien und Klischee der Berichterstattung. Zumal die wenigsten, die über Libyen schreiben, dafür auch dorthin fahren.


Wollte man die Lage in Libyen auf einen Begriff bringen, könnte man sagen: Es ist die Ruhe vor dem Sturm – wobei niemand weiß, ob der Sturm eintreten wird.

 

Seit 2014 ist das Land gespalten. Die jeweilige Regierung (und die mit ihnen verbündeten Milizen) in Tripolis und im Osten belauern einander, während Sirt, die Heimatstadt des 2011 gestürzten Diktators Muammar al-Gaddafi, von der Terrorformation „Islamischer Staat“ besetzt wurde. Auf Vermittlung der UNO und auf Druck der USA und Europas soll eine Einheitsregierung, die beide Landesteile wieder zusammenbringen. Die Zentralbank und die nationale Ölgesellschaft unterstehen ihr. Aber vorerst warten ihr Präsident und sein Kernkabinett in einem Marinestützpunkt bei Tripolis, und die Verhandlungen mit beiden Lagern laufen.

Gibt es keine Einigung und keine Wiederaufnahme der Ölförderung, dann droht in der Tat ein doppeltes Grauensszenario: Die USA haben bereits angedroht, mit Eliteeinheiten selbst den Kampf gegen den IS auch am Boden aufnehmen zu wollen – und einige islamistische Milizen haben für diesen Fall bereits angekündigt, dann den Kampf gegen die Amerikaner*innen aufnehmen zu wollen. Und selbst wenn der Status quo einfach anhält: ist das Land Ende 2017 pleite, die gegenwärtigen Öleinnahmen decken kaum mehr als ein Zehntel der Staatsausgaben.

 

Gleichzeitig aber haben immer mehr Städte die öffentliche Ordnung in die eigenen Hände genommen, so funktionieren Verwaltung, Polizei, Stromversorgung besser als vor einem Jahr. Dabei ähneln Städte, die früh den Kampf gegen Gaddafi aufnahmen wie Zuwara im Westen und Tobruk im Osten manchen, die dem Diktator lange die Treue hielten wie Beni Walid südöstlich der Hauptstadt: Offenbar wollen die Bürger*innen überall eine funktionierende öffentliche Ordnung, Staatlichkeit, die nur gegenwärtig mit dem Staat nur bedingt zu machen ist.

Der Unwillen der Städte, ihrer Familien, Notabeln, die jungen Männer abermals in Kämpfe zwischen den beiden Lagern zu schicken, dämpft die Aussichten der Hardliner, die einen Sieg statt eines Kompromisses wollen. Und nirgends, abgesehen vom schwarzen Monster des IS, ist der Wille erkennbar, die Gegenseite militärisch vernichten zu wollen. Anders eben als in Syrien, wo die syrische wie die russische Luftwaffe nicht nur zivile Wohngebiete angreifen, sondern gezielt Krankenhäuser, Bäckereien, Märkte bombardieren, weil sich dort die größtmögliche Zahl von Menschen ermorden lässt.

Das liegt nicht daran, dass Libyer die netteren Menschen wären – sondern am jeweiligen Geflecht der Interessen und Abhängigkeiten der konkurrierenden Fraktionen. Langzeit-Diktator Muammar al-Gaddafi ließe bedenkenlos seine Truppen, vielfach Söldner aus den südlichen Nachbarländern, mit Maschinengewehren und Flugabwehrgeschützen in demonstrierende Menschenmengen schießen als Konsequenz einer Diktatur, die den Machterhalt über alles stellt – und die sich in den Jahrzehnten zuvor zu viele Todfeinde gemacht hat, um noch deren Gedächtnis und Rache fürchten zu müssen. Ähnlich wie Assads Regime in Syrien. Die neuen libyschen Machtblöcke aber sind allesamt hervorgegangen aus der Revolution, haben entweder für ähnliche Ziele gekämpft oder wären (im Fall der Gaddafi-Loyalisten etwa in der Stadt Beni Walid) viel zu schwach, es mit den anderen aufnehmen zu können. Und: Sie repräsentieren jeweils ihre Stadt, ihre Gegend, weshalb die lokale Stabilität nicht zu unterschätzen ist. Die örtlichen Beharrungskräfte aber blockieren eher militärische Konfrontationen als sie zu befördern.


Es geht für niemanden um alles oder nichts.

 

Im Vergleich der beiden Länder offenbart sich das Zerrbild der Wirklichkeit: Die Berichterstattung über Tod und Grauen in Syrien in Deutschland ist erratisch, gelegentlich werden „kleine“ Bombardements mit 20, 30 Toten vermeldet, meistens nicht. Der summarische, tagtägliche Horror mit ein paar Toten hier, ein paar dort, verteilt über das ganze Land, taucht so gut wie gar nicht mehr auf. Höchstens Ausnahmen, ermordete Christen, oder Dutzende von Opfern nach Bombardements von Märkten oder Schulen, finden noch halbwegs verlässlich ihren Weg in die deutschen Medien. Nicht einmal über die meisten Attacken mit Chlorgas, abgeworfen aus den Hubschraubern von Assads Luftwaffe, fanden sich noch Meldungen in Deutschland.

Der Krieg ist offenbar keine Nachricht mehr, denn er findet ja jeden Tag statt. Er würde, so die Mutmaßung, das Publikum langweilen. Im Erleben, für die verbliebenen Bewohner von Aleppo, Idlib, Deraa, sieht das anders aus.

In Libyen hingegen sind Kämpfe mit vielen Toten, gar Luftangriffe, weiterhin die Ausnahme. Also werden sie vermeldet. Dass die letzten massiven Kampfhandlungen in der Hauptstadt Tripolis Ende 2014 stattfanden, vor anderthalb Jahren, und dass die Sicherheitslage in der Stadt im vergangenen Jahr nicht schlechter, sondern sogar besser geworden ist, die organisierten Entführer*innenbanden teils zerschlagen, teils aus der Stadt gedrängt werden konnten – es ändert nichts am Medienbild vom gescheiterten Staat und Bürgerkrieg.
Die Verteidiger*innen gänzlicher Nicht-Einmischung in Syrien und die Apologet*innen des syrischen Regimes, das nach ihrer Ansicht den Staat vorm Zerfall bewahre, bemühen gern das libysche Beispiel: „Wollen wir das Syrien im völligen Chaos versinkt so wie Libyen?“, lautet der Kern des Mantras.


Syrer*innen in den allermeisten Teilen des Landes wären vermutlich ausgesprochen glücklich, unter den Bedingungen Libyens zu leben.