Überholt von Algorithmen

Fabian Stark Kontent 2017

Überholt von Algorithmen

Über die Interviewerin

Luna Ali (*1993) ist Kuratorin des Fuchsbau Festivals und studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Interview 31.07.2017

Armen Avanessian gießt die Blumen eines Châteaus bei Bordeaux.
Bild: privat

In seinem neuen Buch Miamification nimmt uns der Philosoph, Literaturwissenschaftler und politische Theoretiker Armen Avanessian mit auf einen Streifzug durch sein Denken:

• Wir leben in einem neuen Zeitkomplex: Die technologischen Mittel beschleunigen unsere Zeit dermaßen, dass wir in einer aus der Zukunft kommenden Gegenwart leben.
• Die Digitalisierung ist eine Medienrevolution wie der Buchdruck oder die Einführung der Schrift. Wir befinden uns im Übergang zu einer neuen Gesellschaftsformation. Diese Phase prägt die ständige Überproduktion von Sinn an der Schnittstelle von Mensch und Maschine.
• Unser Datenschatten folgt uns nicht, sondern eilt uns voraus. Anders gesagt: Der Kapitalismus hat das Internetversprechen des 21. Jahrhunderts überholt.
• Aber: Wir sind nie das, was Daten vorhersagen. Daten sind Informationen, die als Fakten gelesen werden. Wir müssen poetische Gegenstrategien entwickeln.

Armen Avanessian, der Vertreter des Spekulativem Realismus und Akzelerationismus, bespricht in Miamification Big Data, Trump, Präemptive Persönlichkeiten, Gentrifizierung, Non-Arbeit, Finanzfeudalismus, Postkapitalismus, Datafikationen, Post-Internet, Singularity, Scooter, Klimawandel, Einwanderung, den Orang-Utan. Und, und, und. Bei gerade mal 136 Seiten bleiben da natürlich einige Fragen unbeantwortet, die wir ihm als Autoren des Buches noch mal stellen werden. Davor erklärt er uns, warum er in Frankreich Blumen gießt.

Warum sitzt Du gerade in Frankreich?
In Amsterdam traf ich eine Künstlerin zum Interview und ihr Vater suchte jemanden, der fünf Wochen auf sein Haus bei Bordeaux aufpasst. Weil ich als prekär lebender Philosoph mehrere Monate keine Einkünfte und meine Wohnung deshalb untervermietet habe, habe ich diese Gelegenheit genutzt und bin hier untergekommen.

Hängt der Sinn einer Aussage im digitalen Zeitalter noch davon ab, wer, wann und wo dieses Ich ist? Seite 98

Die Frage müsste lauten: Wer schöpft aus einer Aussage Sinn und gibt ihr Bedeutung? Unsere technologische Umwelt nimmt Einfluss auf unsere Aussagen und gibt ihr unterschiedliche Bedeutungen. Von unserer eigenen Intention kann dieser zugeschriebene Sinn vollkommen abweichen.

Wie erleben wir die neue komplexe Zeit, eine Zeit, die nicht mehr einfach chronologisch von der Vergangenheit in die Zukunft fließt? Oder vielmehr: Was bedeutet es, dass wir gar nicht erleben können, wie dieser neue Zeitkomplex in unseren komplexen Gesellschaften im großen Maßstab technologisch implementiert wird? Seite 56

Das Problem ist, dass wir den Zeitkomplex nicht wirklich erleben können. Teilweise aus einem intellektuellen Unvermögen, teilweise auch, weil das Problem bereits in der Erfahrbarkeit liegt. Die Wirklichkeit und ihre Zeitlichkeit entziehen sich uns gewissermaßen. Die Zeiterfahrung ist in komplexen Gesellschaften nicht einfach von Menschen und ihren Erfahrungen gesteuert, sondern von Automatismen und Maschinen. Was wir also wahrnehmen, sind periphere Phänomene, die wir falsch deuten, weil wir noch nicht gelernt haben, wie wir diesen Zeitkomplex verstehen. Und wir müssen etwas erst verstehen, um damit umzugehen. Wir erfahren nur die Effekte von präemptiver Polizeiarbeit und präemptiver Kriegsführung. Sind teilweise schon präemptive Identitäten, weil die Algorithmen schon vor uns wissen, was uns interessieren wird, was wir kaufen wollen werden. Den Zeitkomplex selbst erfahren wir nicht. Aber wir erfahren, dass wir gestresster sind, dass wir immer mehr die Kontrolle über unsere Zeit und unser Leben verlieren.

Welche Gesellschaften meinst du mit komplex?
In komplexen Gesellschaften können wir schon lange nicht mehr überschauen, was unsere Bewegungen und Entscheidungen mit sich bringen. Die Effekte unseres Handelns sind in der Gegenwart nicht sofort absehbar. Wir können mit einer globalen Bedrohung wie dem Klimawandel nicht umgehen, die Zukunft in die Gegenwart nicht einberechnen. Gleichzeitig greifen Algorithmen in unseren Alltag ein und treffen Führungsentscheidungen. Das Gegenteil von „komplex“ ist nicht „einfach“ oder „primitiv“, sondern die Tatsache, dass Menschen in diesen Gesellschaften weder das Richtmaß sind, noch treffen sie ihre Entscheidungen alleine. Das ständige Pochen auf Gegenwärtigkeit, contemporary, oder das Streben nach Präsenz ist dafür nur ein Symptom.

Wie lange braucht es, bis aus Fossilien Rohstoff wird?Seite 14

Dann müsste ich erstmal googlen. Das ist die Sache mit dem Gedächtnis. Aber es wird ja immerhin nicht schlechter als Kulturpessimisten*innen glauben. Platon meinte auch, dass mit der Schriftkultur unser Gedächtnis schlechter wird, heute behaupten es Reaktionäre. Ja, unser Gehirn verändert sich durch die Digitalisierung: Wir merken uns eher, wo wir die Sachen, nach denen wir suchen, finden können oder abgespeichert haben. Und davon handelt mein Buch ja auch.

Ist heute überhaupt noch Zeit für philosophisches (Nach-, Hinterher-, Über-) Denken?Seite 7

Na ja, früher gab es nur eine kleine Elite, die mehr Zeit hatte. Nichtsdestotrotz ist es ein Ringen um Zeit, Ruhe, um diese bestimmte Form von Nachdenklichkeit, die ich mit philosophischem Nachdenken und Schreiben verbinde. Wenn man sich etwa den akademischen Zwängen restlos ausliefert, wird es schon schwierig mit der Zeit.

Stehen wir umgekehrt am Beginn einer postkapitalistischen Ära, in der sich die neuen technologischen Möglichkeiten in nachhaltigeren und fairen ökonomischen Austausch übersetzen?Seite 72

Es gibt seit mehr als 100 Jahren Abgesänge auf den Kapitalismus. Man könnte auch meinen, also langsam sind wir dem überdrüssig, weil der Kapitalismus sowieso alles überlebt. Trotzdem leben wir heute bereits vielleicht schon in etwas, was nur nach Kapitalismus aussieht, was aber unter der Oberfläche von Ausbeutung und neoliberaler Prekarisierung gar nicht mehr über zentrale Grundmuster des Kapitalismus verfügt – wie die industrielle Produktion. Spekulation und Finanzialisierung sind vielleicht eher Zeichen eines neuen Feudalismus, eines Finanzfeudalismus. Vieles spricht aber auch für das Gegenteil: Die neue Globalmacht China definiert sich ganz stark über Produktion. In jedem Fall will ich die Selbstverständlichkeit ankratzen, dass wir im Kapitalismus leben – auch damit wir gezwungen sind genauer hinzusehen.

Leben wir noch im Kapitalismus oder schon in einem postkapitalistischen Etwas, ohne dass das unbedingt Grund zu revolutionärer Freude wäre?Seite 72

Eigentlich ist es unsere eigene politische Dummheit, wenn wir immer noch in diesem unfairen, umweltzerstörenden und ganz und gar nicht fortschrittlichen System Kapitalismus leben. Das ist eine Grundpositionen des Akzelerationismus. Eigentlich sind die technologischen Mittel und wissenschaftlichen Möglichkeiten schon vorhanden, mit denen wir diese Gesellschaft und die politische Ökonomie transformieren könnten. Wir könnten in einer besseren Welt leben – nur fehlen anscheinend der politische Wille oder die Organisationsformen, um das zu tun.

Welches Wissen liegt in unseren Daten? Was können wir aus ihnen lernen?Seite 15

Ich weiß nicht, wie wir damit umgehen werden, wenn uns in Zukunft Apps die Wahrscheinlichkeit eines Endes unserer Beziehung vorhersagen werden. Werden wir damit produktiv umgehen und uns um unsere Beziehung kümmern, oder werden wir die Prophezeiung erfüllen und uns gleich nach jemand Neuem umschauen? Analoge Fragen stellen sich in der proaktiven Medizin schon jetzt. Auch da können wir der Versuchung nicht widerstehen, das aus und über unsere Zukunft vorhandene Wissen zu registrieren und in unser Handeln sowie unser Selbstbild zu integrieren. Wenn uns ein*e Mediziner*in sagt, dass wir mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit Krebs haben werden, und wir sollten uns vorsorglich operieren lassen oder unsere Ernährung umstellen, dann stellen wir die Frage nach einer potenziellen Unfreiheit gleich ganz anders.

Und wie wäre das anders möglich denn mithilfe (der poetischen Kraft) von Sprache, dem Betriebssystem eures Gehirns?Seite 47

In der Poetik einer Existenz, einem früheren Buch von mir, habe ich versucht, das Konzept von Foucaults „Poetik einer Existenz“ weiterzuentwickeln – diese schöne Idee der griechischen Aristokraten, natürlich nur Männer, die versucht haben, der Nachwelt zu vermitteln, ihre Existenz sei schön gewesen. Das Problem ist, dass das bei Foucault eine Ästhetik der Existenz genannt wird und leicht mit einer bloßen Verhübschung verwechselt wurde.
Ich hab hier ein kleines Problem, weil… Ich muss hier meiner house-sitting Verpflichtung nachgehen und alle zwei Tage die Blumen gießen. Nur, dass du weißt, unter welchen Umständen ich das hier mache. Und da fällt hier auf dem Brunnen vor dem kleinen Château, umgeben von Weinreben und mehr Rehen als Menschen, andauernd der Blumentopf um, der so klein ist und den ich aber trotzdem gießen muss. Jetzt muss ich den Wasserstrahl entsprechend anpassen.
An Foucault interessiert mich, dass er die ihn betreffenden Themen zum Gegenstand seiner Wissenschaft gemacht und zugleich neue Methodologien erfunden hat. Er hat nicht subjektivistisch über sich und seine Probleme geschrieben. Er hat auch keine schöne Existenz geführt, weil er gut angezogen war oder vielleicht schnelle Autos mochte. Was so viele Menschen an ihm fasziniert, und auch mich, ist seine poetische Existenz, und zwar als ethisches Verfahren. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, wie man angesichts der allgemeinen akademischen Misere, die ja auch ein politisches Problem ist, noch relevante Forschung betreiben kann, statt einfach nur irrelevante Sekundärliteratur zu produzieren, selbst wenn diese – mit Bourdieu gesprochen – den Gestus des antiakademischen Akademismus vor sich herträgt. Es bedarf auf diesem Gebiet mehr Poetik, mehr semiotisches Wissen und weniger ästhetisches. In der zeitgenössischen Kunst, einem Ziehkind des Finanzkapitalismus, ist die Ästhetik hegemonial geworden. Die ästhetische Kunst ist so zum Handlanger der gegenwärtigen Macht geworden und nicht, was sie gerne wäre: eine Kritik an oder Subversion dieser Macht. Dagegen versuche ich poetische Strategien ins Spiel zu bringen, die den Fragen nachgehen: Wie geht man um mit Daten um? Wie geht man um mit Informationen, die wir produzieren? Wer wertet die aus? Wer hat die Hoheit darüber?

Eine produktive Poetik ist so verstanden diejenige Produktion, die einen Raum der Wahrheit (und das meint immer auch: einer politischen Wahrheit) eröffnet.Seite 49

Genau, es geht um das Herstellen, um die Produktion eines Raumes statt der von Wahrnehmungseffekten. Die Kraft der Sprache ist eine völlig andere. Donald Trumps Medium ist nicht ohne Grund Twitter, nicht Instagram. Zeitgenössische Kunst unterliegt dem Irrglauben, das die Kunst so viel verändern kann, dabei haben wir etwas die Sprache vergessen.

Aber es ist doch so, dass ein Algorithmus sein Handeln nicht versteht, was freilich seiner Wirksamkeit und Effizienz keinen Abbruch tut. Tragen die Programmierenden dafür Sorge?Seite finden wir nicht mehr, Hinweise erbeten!

Wenn ich etwas recherchiere, bedeutet das für mich X und für den Algorithmus Y. Wer legt Y fest? Das ist eine politische Frage. Algorithmen werden geschrieben, nicht anders als Derivate und die Programme für High Frequency Trading. Daher die Frage, ob die Schreiber*innen dieser Programme überhaupt absehen können, welche Bedeutungsproduktion sie in Gang setzen. Ich denke: zum Großteil Nein. Die Gesellschaft ist von ihren eigenen Maschinen überfordert. In der Menschheitsgeschichte ist es normal, dass so große paradigmatische und technologische Veränderungen immer mit kulturellen und politischen Umwälzungen verbunden sind. Wir haben irgendwann sprechen gelernt, wir haben irgendwann zu schreiben begonnen und wir haben – grob gesprochen – 100 Jahre lang geglaubt, der Buchdruck sei dazu da, die Bibel zu verbreiten. Da haben wir uns aber getäuscht. Nicht anders ist es mit der Digitalisierung. Wir glauben immer noch, dass wir wie in den siebziger Jahren Kapitalismus und Sozialdemokratie spielen können. Wir glauben immer noch, wir können Demokratie so und nicht anders führen. Wir glauben immer noch, dass das vorhandene Parteiensystem ein demokratischer Fixpunkt ist. Wir glauben immer noch, dass wir im Zeitalter des Internets Galerien und Museen brauchen. Als Gesellschaft sind wir immer noch nicht im neuen digitalen und derivativen Paradigma angekommen.

Beim Lesen von Miamification habe ich durchgängig eine Dringlichkeit in deinem Ton gespürt. Woher kommt diese Dringlichkeit zu schreiben?
Die doofe wienerische oder einfach rotzige Antwort ist: weil ich in Frankreich ein Haus hüten muss und das etwas empörend finde, weil ich nicht der Dümmste oder Unproduktivste bin und ich gerne mehr Menschen erreichen würde als hier in der Pampa zu sitzen, um keine Kosten zu haben und so mein nächstes Buch schreiben zu können. Das erinnert mich an Karl Kraus, der den Unterschied zwischen Deutschen und Österreicher*innen so beschrieben hat: Das deutsche Kriegsministerium schickte nach einer verlorenen Schlacht 1918 ein Telegramm nach Wien: „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.“ Und die Österreicher*innen telegrafierten angeblich zurück: „Nein, die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“
Um also auch etwas ernster zu antworten: Die Lage ist dringlich, Stichwort Trump, Brexit und Klimaveränderung. Wenn wir weiterhin den von mir abgöttisch geliebten Walter Benjamin lesen und glauben, mit noch mehr intensivierter Lektüren und noch einer kritischen Biennalen etwas erreichen zu können, dann weiß ich auch nicht. Dann ist Hopfen und Malz verloren.